
„X., 34 Jahre alt, Gymnasiallehrer, hat in der Kindheit an Convulsionen gelitten. Mit 10 Jahren begann er zu onanieren, unter wollüstigen Empfindungen, die sich an sehr sonderbare Vorstellungen knüpften. Er schwärmte eigentlich für die Augen des Weibes, da er aber durchaus sich auf irgend eine Art den Coitus vorstellen wollte und in sexualibus gänzlich unwissend war, so kam er auf die Idee, um sich so wenig wie möglich von den Augen zu entfernen, den Sitz der weiblichen Geschlechtsorgane in die Nasenlöcher zu verlegen. Um diese Vorstellung dreht sich von jetzt ab seine sehr lebhafte sexuelle Begierde. Er entwirft Zeichungen, welche correcte griechische Profile von Frauenköpfen darstellen, aber mit so weiten Nasenlöchern, dass die Immisio penis möglich wird.
Eines Tages sieht er im Omnibus ein Mädchen, in welchem er sein Ideal zu erkennen glaubt. Er verfolgt es in dessen Wohnung, hält augenblicklich um dessen Hand an. Hinausgewiesen, dringt er immer wieder ein, bis er verhaftet wird.
X. hat niemals geschlechtlichen Umgang gehabt.“
Hieran ist einiges Bemerkenswert, zuallererst natürlich der charmant-lakonische Schlusssatz, welcher in seiner Kürze viel zu sagen vermag. Es ist eine Feststellung, in der einige Traurigkeit steckt. Ausweglosigkeit, weil sich kein/e Gleichgesinnte/r finden will. Es scheint dieselbe Traurigkeit von diesem Satz auszugehen, wie in Berichten über das letzte Exemplar einer aussterbenden Tierart. Zur Einsamkeit verdammt.
Natürlich wird diese ein wenig abgefedert durch die durchaus humorvolle und zum Lachen reizende Erzählung von der Begegnung im Bus zwischen Beobachtung 71 und seinem idealen Mädchen. Die Geschichte ist bemerkenswerterweise wie so oft bei Krafft-Ebing nicht furchterregend, sondern eher niedlich geschildert. Es ist eher der naiv-niedliche Perverse, als das degenerierte, besessene Monster, das uns hier begegnet, obwohl dies problemlos möglich wäre – ein wildfremder Mann, der nicht aufgibt, immer wieder versucht einzubrechen und Heiratsanträge aufgrund einer wohlgeformten Nase macht, ist wohl nichts, was irgendjemand ernsthaft erleben möchte. Es ist das Mitgefühl Krafft-Ebings für seine Patienten, welches hier augenfällig wird. Es ist, was Deleuze und Guattari als 'Minoritär-Werden' bezeichnen. Dieses meint nämlich gerade nicht eine (immer falsche) Identifikation mit irgendwelchen unterdrückten Opfern, sondern ein sprechen vor den minoritären Gruppen (welche beileibe nicht sympathisch zu sein haben, nur minoritär). Es ist die immer mitgedachte Gruppe von Menschen, die vor denen man spricht, nicht anstatt ihrer. Keinesfalls eine Anklage gegen die bösen Unterdrücker (wie sich sich leider in linkspolitisch aktiven Kreisen immer wieder findet), sondern ein Fühlen, wie es sich eben bei Krafft-Ebing und seiner Beobachtung 71 findet. Krafft-Ebing (und der Leser mit ihm) wird in einem gewissen Sinne zur Nr. 71, zum Minoritären. Wir nehmen durch Krafft-Ebing die unschuldige Freude an Nasen wahr; eine harmlose Vorliebe, die nichts schlechtes will.
Eigentlich ist dies gar nicht so fremd, die sexuelle Nasenvorliebe. In unserem kulturellen Gedächtnis oder Erbe finden sich zahlreiche Verknüpfungen von Nase und Sex, so dass die Seltenheit des Nasenfetisches eigentlich erstaunlich ist.
Wir alle kennen den assoziativen Zusammenhang zwischen Nase und männlichem Geschlechtsorgan. Die Nase ist als einziges Gesichtsmerkmal kein Doppelpaar, sie ist hervorstehend und zentral angebracht. Ein hübsches Beispiel hierfür sind die Penisnasenbrillen, die sich von kaum einer Faschingsparty oder Junggesellenabschieden wegdenken lassen. Auch kann man durch Nasen in männlicher Form berühmt werden, Mike Krüger, Thomas Gottschalk oder Gerard Depardieu... wobei die beiden erstgenannten ihre Nasen sogar im Filmtitel tragen durften. Es ist keinesfalls nur der Wiedererkennungswert, welcher durch die Nase generiert wird. Dies besorgen auch herabhängende Augenlider, buschige Augenbrauen oder abstehende Ohren. Es ist die (sexuelle) Potenz oder zumindest die männliche Identität, die durch die große Nase assoziiert werden. Hingegen kann die kleine Nase mit mangelnder Männlichkeit in Verbindung gebracht werden. Wo nun also die Nase sowieso in unser aller Köpfe irgendwie mit dem Penis und somit dem Sex assoziiert ist – warum gibt es dann eigentlich nicht mehr Nasenfetischisten? Warum gibt es nicht mehr spontane Heiratsanträge im Bus?