
Neurasthenie kennt heute keiner mehr, sie war jedoch zu Zeiten der Psychopathia Sexualis ein weit verbreitetes Krankheitsbild, so dass sie im Folgenden für den Leser kurz umrissen werden soll.
Bei Neurasthenie handelt es sich um eine Erkrankung, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts großer Popularität erfreute. Zu erster Berühmtheit gelangte sie durch den Neurologen Georg Miller Beard, der seit 1866 eine eigene Praxis in New York führte. In dem 1869 veröffentlichten Aufsatz 'Neurasthenie, oder nervöse Erschöpfung' listet Beard folgende Symptome auf: “allgemeines Krankheitsgefühl, Schwäche aller Körperfunktionen, schlechter Appetit, anhaltenden Kraftlosigkeit (…), flüchtige Nervenschmerzen, Hysterie, Schlaflosigkeit, Hypochondrie, Abneigung gegen regelmäßige und anhaltende geistige Tätigkeit, starke kräftezehrende Kopfschmerzattacken und ähnliche Symptome"(1).
Neurasthenie hat einen eindeutigen Ursprung, sie kommt durch zu starke Arbeitsbelastungen in einer zu schnellen Zeit zustande. Es ist die sich wandelnde, neue Zeit und die damit einhergehenden Entwicklungen in den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen. „Der wichtigste und primäre Grund dieser Entwicklung und des sehr starken Anstiegs der Nervosität ist die moderne Zivilisation, die sich von den älteren Kulturen durch fünf Charakteristika unterscheidet: Dampfkraft, regelmäßig erscheinende Zeitungen, Telegraphen, die Wissenschaften und die geistige Aktivität von Frauen"(2).
Dementsprechend war die Neurasthenie keine 'richtige Krankheit', sondern nur eine (vorübergehende) Schwäche der Nerven. Sie war sozial erworben und nicht erblich. Es kommt fast eine Auszeichnung gleich, an Neurasthenie zu erkranken – wer sie hatte, der gehörte zu den damaligen Leistungsträgern, der arbeitete hart. Neurasthenie als Auszeichnung, die eine Pause ermöglicht, anstatt psychische Krankheit als 'degeneratives' Merkmal.
Als Erklärung wurde ein Batteriemodell herangezogen: durch die anstrengende geistige Arbeit und die turbulenten Lebensverhältnisse wird zu viel Energie verbraucht, so dass die Speicher dann wieder aufgeladen werden müssen. Erfolg hatte das Neurasthenie-Konzept zuerst bei der Bevölkerung, nicht in den anerkannten akademischen Kreisen. Die in eigener Praxis behandelnden Ärzte und ihre Patienten waren es, die dieses Neurastheniekonzept bevorzugten und bekannt machten, so dass im Folgenden auch die akademische Wissenschaft begann sich für dieses Nervenschwächekonzept zu interessieren.(3)
“Eigentlich war man gar nicht krank, nur nachhaltig erschöpft und deshalb behandlungsbedürftig. Neurasthenie war somit ein medizinisch-wissenschaftlich erwiesener, zudem gesellschaftlich akzeptierter Grund, um sich zumindest zeitweise von Verpflichtungen entbinden lassen zu können, ja zu müssen."(4)
Wer jetzt an die heutige Krankheit Burn-Out erinnert ist, der liegt goldrichtig. Die Parallelen sind kaum zu übersehen: Von Praktikern erdacht, von der Bevölkerung dankbar aufgegriffen, verursacht durch das schnelle Leben und die harte Arbeit. Weder Burn-Out noch Neurasthenie sind psychische Krankheiten, sondern vorübergehende Erscheinungen, die eine eingehende Beschäftigung mit sich selbst ermöglichen.
(1) Beard (1869): Neurasthenia, or Nervous Exhaustion. In: Boston Medical and Surgical Journal, S. 218.
(2) Beard (1882): American Nervousness, S. VI.
(3) Eine interessante, aber für das hier behandelte Thema nebensächliche Folge der Popularität des Neurasthenie-Konzeptes war 1886 die Erfindung eines wohltuenden Gegenmittels, welches aus Cola-Nuss und Coca-Blättern bestand. Dieses wurde etwas später als Erfrischungsgetränk vermarktet und ist uns allen unter veränderter Rezeptur, die nur noch dem Namen nach die anregenden Substanzen enthält, bekannt: Ohne Neurasthenie keine Coca-Cola.
(4) Hillert/Marwitz (2006): Die Burnout-Epidemie, S. 194.